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Raus mit euch! Naturraumpädagogik in der Kita
Ein Plädoyer für mehr Zeit mit Kindern in der Natur.
Stubenarrest war in meiner Kindheit noch eine gefürchtete, elterliche Androhung. Heute dagegen stellt es für viele Eltern oftmals eine Herausforderung dar, ihre Kinder aus dem Haus zu locken. Ein buntes Spielwarenangebot und diverse digitale Versuchungen lassen gerade die älteren Kinder und Teens genüsslich in ihren Zimmern verweilen.
Die Waldkindergartenkinder in Pielenhofen sind sich jedoch absolut einig: Erwachsene sollen mit Kindern so oft wie möglich nach Draußen gehen. Das erklären sie mir in unserer Morgenrunde, als ich sie nach Ihrer Meinung frage. „Habt Ihr auch einen Tipp für mich, was ich anderen Erwachsenen schreiben kann, warum sie das tun sollen?“
„Na klar! Damit sie frische Luft schnappen können, mehr sehen, sich austoben und Lagerbauen können.“
Treffender hätte ich das wohl nicht auf den Punkt bringen können.
Der Naturraum als Lern- und Erlebnisort
Zeit im Freien zu verbringen, wirkt sich positiv auf unsere Gesundheit aus. Frische Luft schnappen tut der Psyche gut und wirkt sich positiv auf unser Gehirn aus. Eine neurowissenschaftliche Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung belegt, dass unsere Konzentration, das Gedächtnis und unser Wohlbefinden vom Draußensein profitieren, und zwar unabhängig davon, ob wir uns in der Natur oder in der Stadt bewegen.
Der vielseitigste und erlebnisreichste Bildungsraum, den man sich nur vorstellen kann, ist allerdings die Natur. Im Gegensatz zu konstruierten Lern- und Erfahrungsräumen sind die Aufforderungen und Anregungen draußen immens höher und passen sich aus ihrer Vielfalt heraus den unterschiedlichsten Interessen und Entwicklungsschritten der Kinder an. Kinder spüren die anregende Wirkung in der Natur. All ihre Sinne sind permanent angesprochen. Kinder, die viel draußen sind, wissen, wie der Sommer riecht, wie sich der Winter anfühlt, wie der Herbst schmeckt und sich der Frühling anhört. Die 5-jährige Hannah erklärt mir: „Draußen sieht man viel mehr. Da fährt einmal ein Traktor vorbei oder wir können zum Beispiel zuschauen wie das Eis schmilzt.“
Fühlen sich Kinder eingeschränkt, explodiert früher oder später ihr Bewegungsbedürfnis und die überschüssige Energie muss sich entladen. Kinder können dieses Bedürfnis noch nicht so steuern wie wir Erwachsene. Bei einem längeren Aufenthalt im Freien regulieren sich Ruhe- und Bewegungsbedürfnisse wie von selbst. Ein vielseitig strukturierter Naturraum lädt die Kinder zum Verweilen ein oder fordert sie an anderer Stelle zu Bewegung auf. Sich draußen einfach austoben zu können, das ist für Raphael und Fabian das Beste am Draußen-Sein. „Und wenn ich nicht mehr kann, dann mache ich es mir im Schatten unterm Haselbusch gemütlich“, erklärt Fabian.
Der Neurobiologe Gerald Hüther und der Kinderarzt Herbert Renz-Polster plädieren in ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen“ (Beltz 2016) für die Natur als angestammten Entwicklungsraum für Kinder. Kinder suchen einen Entfaltungsraum, in dem sie selbst gestalten und experimentieren können sowie sich selbst begegnen. In der Natur können sie sich ausprobieren, Abenteuer und Freiheit erleben.
Im Naturraum werden die Kinder wie von selbst zu Gestaltern, Entdeckern und Forschern. Beobachtet man Kinder beim freien Spiel in der Natur, bauen sie Hütten, sammeln Blätter und Beeren, kämpfen mit Stöcken oder gehen mit selbst gebauten Sperren auf imaginäre Jagd. Kinder suchen offensichtlich elementare Erfahrungen und Herausforderungen.
Das Allerschönste im Waldkindergarten ist das Lagerbauen, erklären mir die Kinder. Unzählige, verschiedene Lager wurden auf unserem Waldgelände in den letzten Jahren von Kindern aufgebaut, eingerichtet, bespielt und wieder abgerissen. Es scheint eine spezielle Leidenschaft von Ihnen zu sein, auf diese Art ihre Spuren zu hinterlassen, sich zu verwirklichen und ihren Fantasien Raum zu geben.
„Kribbelzone“, so nennt Herbert Renz-Polster die Zone, in der sich Entdeckungslust und Angst die Waage halten und die Kinder bewusst ansteuern. Die Natur stellt eine einzige Kribbelzone für Kinder dar. Überall gibt es etwas zu entdecken, ständig lauern verschiedene Herausforderungen. Kinder wollen sich ausprobieren, sie wollen sich ihren Ängsten stellen, das kleine Kribbeln fühlen, wenn sie über einen Baum balancieren oder in einen großen Blätterhaufen springen.
Sie sind besonders stolz darauf, wenn sie ein Abenteuer bestanden haben. Naturerlebnisse gehen unter die Haut, sie berühren uns im wahrsten Sinne des Wortes und hinterlassen Spuren in unseren Erinnerungen. Kinder, die diese echten, hautnahen Abenteuer kennen lernen durften, Selbstwirksamkeit erleben konnten durch eigenes Gestalten und ein bisschen Adrenalin in den Venen hatten, als sie versucht haben mit eigenen Kräften auf einen Baum zu klettern – diese Kinder tragen ihr Leben lang einen wertvollen Rucksack mit sich, in dem Erfahrungen stecken, die sie für die Zukunft stärken, sie resilient machen und vor Sucht schützen.
Und wer weiß, vielleicht lassen diese Naturerfahrungen auch sie zu Eltern werden, denen es wichtig ist, dass ihre Kinder einmal viel Zeit draußen verbringen und gegen Stubenarrest auf die Straße gehen.
Wie Rausgehen zur Profession wird – Naturraumpädagogik als nachhaltiges Konzept für Kitas
Waldkindergärten sind seit Jahren ein gutes Beispiel dafür, wie Bildung und Erziehung im Naturraum gelingen können. In den vergangenen Jahren erfreut sich diese pädagogische Ausrichtung immer größerer Beliebtheit. Neben dem reinen Waldkindergarten haben sich inzwischen Waldtage, Projektwochen oder Außengruppen in vielen konventionellen Kitas etabliert.
2018 wurde mit dem Konzept der Naturraumpädagogik ein pädagogischer Ansatz formuliert, der all die pädagogischen Entwicklungen und Bestrebungen für mehr Naturerlebnisse von Kindern vereint. Das Fundament des naturraumpädagogischen Ansatzes stellt die Grundgedanken der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) dar. Die betriebliche Führung von Kitas, deren Ausstattung sowie das gesamte Bildungsgeschehen richten sich an nachhaltigen Aspekten aus und reflektieren diese. Die Vermittlung von ökologischen Inhalten spielt in der Naturraumpädagogik eine große Rolle, ist aber nicht immer Hauptanliegen pädagogischen Handelns. Sämtliche Bildungsbereiche, wie sie die Bildungspläne der Bundesländer für Kitas beschreiben, finden dort ihre Umsetzung.
Kinder, die in der Natur spielen, lernen in Sinnzusammenhängen. Sie erschließen sich ihre Welt durch entdeckendes, forschendes Lernen, stellen Fragen und Transfer her. Lernen erfolgt sowohl aus einer inneren Motivation heraus als auch durch die Interaktion mit anderen. Demokratische Prinzipien und partizipative Bildungsprozesse sind in naturraumpädagogischen Konzepten der Schlüssel für nachhaltige Bildung.
So haben die Waldkinder in Pielenhofen zum Beispiel mit Hilfe ihrer Erzieher:innen ihre eigene Kinderkanzler-Wahl durchgeführt, weil sie wissen wollten, wie es ist Chef:in zu sein und Verantwortung zu tragen und natürlich auch um herauszufinden, welches Wahlversprechen bei den Freunden am besten ankommt.
Sie haben Paul und Hansen, zwei Abenteurern bei ihrer Segelfahrt durch Europa unterstützt, indem sie ihnen Flaggen malten und Ideen lieferten, wie der mitreisende Hund an Board am besten zur Toilette kommt. Weil dem 5-jährigen Tristan die Sitzbänke im Winter viel zu ungemütlich waren, erfand er durch verschiedene Experimente und Konstruktionen mit einem alten Topf, einer ausrangierten Pfanne und der Glut des Lagerfeuers einen beheizbaren Sitz. Philip hat mit seinen Versuchen mit einem Brett und einem dicken Ast eine Kastanie zu schleudern, ein ganzes Projekt um Katapulte und eine spannende Zeitreise ausgelöst. Und als die Waldkinder herausfanden, dass Wildbienen nicht stechen, haben sie mit einem ganzen Netzwerk an Helfern und Fachleuten eine bunte Wildbienenwiese angelegt, die nun Platz für Insekten und gemeinsame Feste bietet.
Wenn Kinder Feuer fangen – die Rolle der Naturraumpädagog:innen
Am intensivsten lernen wir, wenn wir von einer inneren Motivation angetrieben werden. Wenn wir von einem Thema begeistert oder durch ein Bedürfnis angetriggert werden, erscheint uns die Herausforderung, etwas Neues zu lernen, nicht als anstrengend, sondern als ziemlich großer Spaß. Flow nennen Fachleute den Zustand, wenn wir Raum und Zeit vergessen, während wir uns in eine Sache vertiefen.
Um Flow-Erlebnisse so oft wie möglich herbeiführen zu können und für eine nachhaltige Lernkultur in der Kita zu nutzen, benötigt es Pädagog:innen, die Kinder ernst nehmen in ihren Interessen und Bedürfnissen und vernetzt denken. Naturraumpädagog:innen verstehen sich als Impulsgeber:innen und Bildungs-Begleiter:innen und verhalten sich eigentlich ähnlich wie an einem Lagerfeuer. Durch aufmerksames Beobachten und die Teilhabe an den Spielen und Beschäftigungen der Kinder gilt es, die kleinste Glut zu entdecken und sie geschickt zum Lodern zu bringen. Um das Feuer zu entfachen geben Pädagog:innen eine Anregung, eine Frage in die Glut, warten ab, ob sie dadurch etwas entzünden können oder ob es ein anderes „Holzscheit“, eine andere „Zutat“ benötigt, um das Feuer zu entfachen. Haben Kinder erst einmal an einer Sache Feuer gefangen, wird es für die Erwachsenen eine Freude sein, dieses Feuer weiter zu schüren. Das Einlassen auf die kindlichen Erklärungsversuche bringt meistens auch einen Zugewinn an eigenen Lernerfahrungen für die Erwachsenen. Gemeinsam weiter zu forschen, zu experimentieren und zu philosophieren erzeugt eine Lern-Atmosphäre, die Kindern nachhaltig in Erinnerung bleiben wird.
Frische Luft schnappen tut der Psyche gut und wirkt sich positiv auf unser Gehirn aus.
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